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Touristen-Spuk

Als mich auf dem Dracula-Schloss das Gruseln überkam

von | 9. Oktober 2016

Im Beitrag über Mythos und Wahrheit der Dracula-Legende haben wir erfahren, dass der historische Fürst Vlad III. zwar Vorbild für Bram Stokers Romanfigur Graf Dracula war, ansonsten aber recht wenig mit dem blutsaugenden Vampir gemein hatte. Ebensowenig kann belegt werden, dass der walachische Fürst Vlad III. jemals auf dem Karpatenschloss Bran war. Aber nun passt Schloss Bran doch so wunderbar auf Stokers Beschreibung vom geheimnisumwitterten Gruselschloss. Eine Touristenlegende war geboren.

Das sogenannte Dracula-Schloss ist ein Besuchermagnet,der seinesgleichen sucht. Etwa eine dreiviertel Stunde von Brasov/Kronstadt entfernt, steige ich im transsilvanischen Bran/Törzburg, das gleichzeitig die Grenze zur Walachei markiert, aus dem Bus. Noch bevor ich mich in dem 5000-Seelen-Dorf orientieren kann, werde ich bereits von einem aufgekratzten Pulk weiter geschoben. Es gibt kein Entkommen. Mit Mühe kann ich mich zum Rand der schubsenden Menschenmasse drängen und mich schließlich seitlich hinaus quetschen. Mich überkommt Erleichterung.

Wie immer, wenn ich zum ersten Mal an einen mir unbekannten Ort komme, setze ich mich erst mal in den Park und beobachte das Geschehen. Ein etwa fünfjähriges Zigeunermädchen bietet mir ein Körbchen mit Himbeeren an. 10 Lei sollte das kosten. In der kommenden halben Stunde sprechen mich noch fünf oder sechs andere Zigeunermädchen im gebügelten Kleidchen und mit Schleife im Haar an, während ihre verwahrlost wirkenden Mütter in Jogginghose, mit braunen Zähnen und fettigen Haaren am Eingang des Basars auf dem Bordstein sitzen und betteln. Ich lasse mich überreden. Die Himbeeren schmelzen auf meiner Zunge, da hasten in den Touristenmassen Vater und Sohn an mir vorüber Richtung Schloss. Beide tragen ein paar Knoblauchzehen, wie Perlen auf eine Schnur aufgefädelt, um den Hals. Dann bin ich soweit, und wage einen Spaziergang durch die Massen.

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Es gibt im Zentrum, direkt am Fuß des Schlossbergs, unzählige Unterkünfte, Souvenirläden, Imbissbuden und einen „Vampir-Campingplatz“, in denen der Tourist/die Touristin zu stark erhöhten Preisen zur Kasse gebeten werden. Die Menschen aus Bran und dessen Umgebung haben vortrefflich gelernt, vom Massentourismus und der Vermarktung des Schlosses als Dracula-Schloss zu leben. Ich gönne es ihnen. Denn umgekehrt will man in Salzburg ja auch Mozarts Geburtshaus oder in Amsterdam das Anne-Frank-Haus besuchen und nimmt erhöhte Preise in Kauf. Nach der Hauptsaison folgen in den Medien dann regelmäßige Jubelmeldungen über Nächtigungszuwächse und Steigerung der regionalen Wertschöpfung. Den eigentlichen Preis für massenhaften Absatz und rollenden Rubel bezahlen die Menschen durch den Verlust ihrer regionalen Identität. Selbst als ich mich etwas außerhalb des Zentrums umsehe, kann ich nichts Bodenständiges mehr spüren. Wie mag Bran wohl vor dreißig oder hundert Jahren gewesen sein?

Nachdem ich nun mal vor Ort bin, stehe ich eine weitere halbe Stunde an, um ein Ticket für einen Rundgang durch das Schloss zu ergattern. Fassungslos lasse ich mich weiter treiben. Kaum innerhalb des Gruselschlosses, will ich im Grunde schon wieder raus. Sich eine Tafel mit Detailinformationen zu den Exponaten durchzulesen ist schier unmöglich. Ein Foto zu komponieren und verwacklungsfrei abzulichten, davon brauchen wir gar nicht reden. Die Menschen schubsen einander durch die Gänge und Zimmer. Sie scheinen unter ungeheurem Druck zu stehen: Für ein Selfie mit den Türmchen im Hintergrund muss man anstehen, und man muss schnell handeln, denn die nächsten Aspiranten halten den Auslöser bereits auf Anschlag gedrückt. Dann schnell weiter ins nächste Zimmer, wo man sich mit offenem Kamin, feudalem Holzsessel und Bärenfell davor ablichten lässt. Es muss jedenfalls schnell gehen. Und man braucht offenbar ganz viele Bilder, damit man in den sozialen Medien und bei den Daheimgebliebenen glänzen kann. Das Foto ist kein Abbild eines Eindrucks, sondern Ausdruck von Menge und Masse, es verkommt zum Prestigeobjekt. Das ganze Szenario wirkt auf mich … wie soll ich es sagen … zwischen surreal und pervers. Positiv empfinde ich dabei lediglich das Verbindende, das Bram Stokers Roman und die facettenreiche Hollywoodinszenierung mit sich gebracht haben: Ob Asianten, Amerikaner oder Europäer, ob Christen, Orthodoxe oder Muslime, sie alle sind sich in ihrer Begeisterung für den Blutsauger mit den spitzen weißen Eckzähnen einig, wenn sie mit Kind und Kegel selfiegrafierend durch das Dracula-Schloss eilen. Herkunft, Religion oder kultureller Hintergrund spielen dabei keine Rolle.

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Den Ausverkauf von Bodenständigkeit will ich nicht VERurteilen. Aus wirtschaftlicher Sicht sind viele Existenzen an das Dracula-Schloss gebunden. Wenn ich es aus meiner Sicht BEurteilen will, komme ich aber zu dem Schluss, dass ich für derartige Massenveranstaltungen nicht gemacht bin. Denn gruselig war für mich allenfalls der Vampir-Vermarktungswahn in Bran. Nun könnte man sagen, der Massentourismus ist zur neuen Identität von Bran geworden, der Wechsel ist ja bekanntlich das einzig Beständige. Trotzdem will sich mein Unwohlsein beim Gedanken an dieses vollkommen entwurzelte Dorf nicht legen, denn nicht alle Entwicklungen lassen sich mit wirtschaftlichen Argumenten rechtfertigen.
Epilog

Dass ich den Tag, den ich in Bran verbracht habe, doch noch als bereichernd empfinde, liegt an einem Treffen, das man so wohl nicht planen kann: Fabien, ein fahrender Meisterschmied aus Frankreich, den ich in Sibiu/Hermannstadt mit dem gebotenen Respekt aus etwas Entfernung fotografiert hatte, klopfte mir in dem Gewühl auf die Schulter. Ob ich nicht die Fotografin wäre, die …. ja, die war ich. Doch das ist eine andere Geschichte, von der in einem anderen Beitrag die Rede sein soll.

REGINA M. UNTERGUGGENBERGER

Regina wollte schon als kleines Kind Geschichten schreiben. Später, bereits tief im Berufsalltag einer Kommunikationsentwicklerin verankert, wollte sie unbedingt fotografieren. Heute macht sie beides. Sie erzählt Geschichten in Bild und Wort. Geschichten von besonderen Menschen, Plätzen und Begegnungen. Dabei legt sie stets Wert auf die innere Verbindung zu den Menschen, Landschaften und Dingen, die sie portraitiert.

4 Kommentare

  1. Liebe Regina, auf die Geschichte um Fabien bin ich schon sehr gespannt. Eine Besichtigung dieses Schlosses hingegen interessiert mich wirklich gar nicht, nachdem ich nun deine Bilder gesehen habe und mir gut vorstellen kann, wie voll es sich angefühlt haben muss. Trotzdem fand ich deine beiden Berichte dazu interessant, denn ich werde vermutlich nie dorthin reisen.

  2. Lieben Dank, Conny. Auch ich werde auf eine zweite Besichtigung des Schlosses verzichten, wie du dir vorstellen kannst. Es gibt in Rumänien, einem Land, das mich insgesamt sehr positiv überrascht hat, viel Schöneres zu sehen und zu erleben. Gerade für dich als Motorrad-Fan gibt es wunderbare Tourenstrecken – lang, verkehrsarm, ampelfrei und schön gewunden :-).

  3. Der Massentourismus ist erträglich, so lange ich ihm aus dem Weg gehen kann. Aber ich hänge auch dem Gedanken an, dass Geschmack mit Bildung, Prägung und Erziehung zu tun hat, und wer nur Kitsch kennengelernt hat, nichts Echtes mehr erkennen, schätzen und würdigen kann.

    Wer nur Ketchup kennt, mag keine Paradeiser, und wer nur Pommes kennt, findet Erdäpfel langweilig. In der Ästhetik verhält es sich analog.

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