Marokko
Wie man in Marrakesch über den Tisch gezogen wird

Give me money!

von | 26. August 2015

„Und, wo war’s denn am schönsten“, werde ich gefragt? Im ersten Teil meiner Morrocan Triology habe ich die elementaren und sehr wertvollen Momente in der Sahara beschrieben. Allgemein bin ich eher nicht so der Reisetyp, der von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten hetzt. Ich lasse mich gerne treiben, erlebe oft zunächst zusammenhanglose, banal wirkende Dinge, die am Ende aber ein erkenntnisreiches und sinnvolles Ganzes ergeben. Jedenfalls: Marrakesch zählt definitiv nicht zu meinen schönsten Erinnerungen. Warum, darüber will ich in diesem Beitrag schreiben …

MarraCASH – Nomen est omen

Siegessicher trete ich aus der Flughafenhalle Marrakech Menara ins Freie, entschlossen, mich respektvoll und nicht wie irgendein ignoranter Tourist zu verhalten. Entschlossen, trotzdem klar zu vermitteln, was ich will und was nicht. Entschlossen, mir dadurch Respekt in der arabischen Welt zu verschaffen. Entschlossen, mich nicht über den Tisch ziehen zu lassen. Und naiv genug, zu glauben, es sei als allein reisende, europäische Frau in Marokko zumindest nicht schwieriger zurecht zu kommen als vor vier Jahren in Cusco/Peru. Mit stoischer Gelassenheit hatte ich damals sämtliche Pfiffe und „Hola, chica-Anmachsprüche“ ignoriert und halbherzige Heiratsanträge in den Wind geschlagen. Und das, obwohl ich echt schon verdammt mieße Laune gehabt hatte, weil mir auf Schritt und Tritt jemand Schmuck, handgestrickte Mützen aus Alpakawolle, Kräuter, Massagen, eine Ayahuasca-Zeremonie oder sonstwas andrehen beziehungsweise meine Schuhe putzen wollte. Schlimmer wird’s wohl nicht kommen, nehme ich an und streife mit einem Lächeln über den Taxistand am Flughafen. Soweit die Theorie.

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Zunächst mache ich dem Taxifahrer klar, in welches Hostel ich will. Er zieht die Augenbraue hoch, nickt wissend und entgegnet auf meine Frage, wie viel denn der Spaß koste, 120 Dirham. Kaum 150 Meter gefahren, blinkt er, fährt rechts ran und fragt mich sicherheitshalber noch mal, wie das Hostel genau heißt. Denn da gäbe es eines, das hieße fast gleich. Ach so, sagt er, da, wo ich hin möchte, das kostet dann 150 Dirham. Wie sich herausstellt, kann man zum Hostel gar nicht direkt zufahren. Er setzt mich irgendwo am Rand der Medina ab und rauscht winkend davon. Sogleich ist ein alter Knabe mit seinem Holzkarren zur Stelle, der mit viel Spucke durch seine verbliebenen zwei Zähne nuschelt, er würde mich durch das Labyrinth der Medina zum Hostel bringen. Und da man nicht kleinlich sein will, gibt man dem armen Hund zum vereinbarten Preis auch noch ein Trinkgeld.

Kommt noch besser! Nächsten Tag werde ich ins Gerberviertel gelotst. Es stinkt derart nach verwesender Tierhaut, dass ich die Luft anhalte. Der „Schlepper“ fuchtelt mir mit einem Büschel Minze unter der Nase herum, damit ich nicht kotze. Das ist noch gratis! Die kaum zehnminütige Führung endet in einem Ledershop, wo ich extrem unter Druck gesetzt werde. Überfordert kaufe ich mir schließlich eine vom Berbervolk handgefertigte – nicht billige – Handtasche. Kaum aus dem Shop heraus, hält der Nächste die Hand auf … er möchte von mir ein Entgelt für die Führung. Schließlich ist es soweit: Ich merke, wie ich innerlich an meinen Siedepunkt gelange, als ein Jüngling mit rehbraunen Augen, den ich NICHT um Hilfe gebeten hatte, zurück Richtung Medina vor mir her geht. Dabei drückt er mir die himmelschreiende und in jedem Reiseführer erwähnte Geschichte, er ginge zur Koranschule, müsse Schulbücher kaufen, und will schließlich zehn Euro von mir haben. Da fahre ich zum ersten mal die Krallen so richtig aus und frage ihn, für wie blöd er mich eigentlich hält. Viel zu gutmütig gebe ich ihm trotzdem ein paar Euro und jage ihn davon.

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Nicht, dass ich ein Halsabschneider wäre und nun Privatkonkurs anmelden müsste. Aber über einen Zeitraum von siebzehn Tagen leppern sich die Abzockbeträge zusammen. Und es ist einfach kein schönes Gefühl, mit einem Übermaß an Dreistigkeit ausgenutzt zu werden und in weiterer Folge jedem Menschen von vornherein mit Misstrauen zu begegnen, weil man befürchten muss, für jedes freundliche Wort extra zu bezahlen. In den Souks wollen geschätzte 2000 Marokkaner mit mir Tee trinken. Anfangs bin ich noch leichtgläubig und nehme eine Einladung an, die flugs in eine aufwändige und zeitintensive Schmuckpräsentation übergeht.

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Man bekommt in den Souks alles, was das Herz begehrt: Von der Zahnpasta bis zur Spitzenunterwäsche, von Windeln bis zur Pilgerkutte, von Gewürzen, allerhand Seifen bis hin zu Ziegenköpfen und Schafskeulen, die unter der marokkanischen Sonne bereits einige Tage gut abgehangen sind. Ich gehe dazu über, niemanden mehr direkt anzusehen und mit einem „No, merci!“ zügig an den Händlern vorüber zu gehen. Mit dem Ergebnis, dass mir nicht selten lautstark auf Englisch, Französisch und Arabisch hinterher geschimpft wird. Das schlägt mit der Zeit auf die Stimmung. Ich schweige und wandere freudlos und gesenkten Blickes durch die Souqs.

Mit dem Orientierungssinn eines Kanarienvogels verirre ich mich zweimal in dieselbe verwinkelte Sackgasse und komme beim zweiten Mal nicht mehr an einem hoch gewachsenen Berber vorbei, der sich mir in den Weg stellt und mich mit säuselnden Worten in seinen Laden hinein schiebt. Ich bin müde, zu müde um nennenswerten Widerstand zu leisten. Ich sehe mich etwas überdrüssig um, hier gibt es richtig schöne, traditionell gefertigte Töpferwaren aus Tamegroute ebenso wie den üblichen Touristentand, der – vermutlich made in China – auch in der Türkei und jedem anderen Touristenort feilgeboten wird. Zum ersten Mal aber entwickelt sich hier bei einem Glas Tee ein Gespräch mit Einheimischen, bei dem ich nicht ausschließlich das Gefühl vermittelt bekomme, ein wandelnder Goldesel zu sein. Dennoch ist es auch Tarik, dem Berber, schwer klar zu machen, dass Geld in Europa ebensowenig auf Bäumen wächst, wie in Marokko. Dass man üblicherweise nicht fünf Kilogramm Schmuck, Töpferwaren, mit denen man einen ganzen Haushalt ausstatten könnte und zehn Teppiche als Souveniers mit zurück nach Europa nimmt.

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Ich könnte die Aufzählung an Abzock-Anekdoten beliebig fortsetzen, will mir aber lieber einige Gedanken dazu machen, wie es zu dieser in Marokko üblichen Grundeinstellung kommt. Nur soviel noch: Ich bin ein echter Kaufmuffel, der so gar keine Freude am Handeln und Feilschen hat. Ich lerne aber situationsbedingt recht schnell, den Marokkanern mit dem „G’stell ins G’sicht“ zu fahren, wie man in der Mundart salopp sagt. Erstens gebietet mein Selbstwertgefühl, mich nicht ständig übervorteilen zu lassen. Zweitens halten Araber und Berber so etwas leicht aus, sie erwarten irgendwo sogar ein Feilschen und Diskutieren.

Bettler, Schuhputzer und Schlepper

In den Suren des Koran, der bekanntlich von einem guten Muslim sehr ernst genommen wird, ist eine Almosenpflicht vorgeschrieben, die den Reichen gebietet, ihren Wohlstand mit den Ärmeren zu teilen. Der Tourist gilt nun als besonders wohlhabend, kann er sich doch die teure Reise nach Marokko leisten und besitzt womöglich auch noch teure Foto-/ Videokameras usw. Selbstredend, dass man als Tourist also immer mal wieder um solch eine von Gott gewollte Gabe „gebeten“ wird. Es gibt in Marokko keine funktionierende Sozialversicherung, knapp 20% der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, d. h. sie haben weniger als den gesetzlich festgelegten, ohnehin schon niedrig gehaltenen Mindestlohn zur Verfügung.

Dazu kommt eine niemals hinterfragte Gottergebenheit, frei nach dem Motto, Allah wird’s schon richten. Viele Marokkaner, so mein Eindruck, sehen aus dieser religiösen Haltung heraus gar keine Notwendigkeit, aktiv etwas zur Verbesserung der Lebensqualität beizutragen. Was morgen ist, scheint generell wenig wichtig. Überspitzt könnte man sagen: Kommt (kimmt) der Tag, bringt der Tag (mundartlich).

Häufig sind es alte Menschen oder alleinstehende Frauen, die zusammen mit einem Kind am Straßenrand sitzen und betteln. Die Forderungen werden lautstark vorgetragen, und im Falle einer Gabe wird Gottes Segen in Aussicht gestellt. Muriel Brunswig-Ibrahim formuliert es in Kultur-Schock Marokko * so:

In gewisser Weise spielen sie [die Bettler] für die Gesellschaft der islamischen Welt sogar eine ehrenhafte Rolle, denn sie sind es, die dem Muslim die Möglichkeit geben, mit seiner Gabe ein gottgefälliges Werk zu tun.

Leider gibt es nicht nur bedürftige Bettler. In Marokko, wie auch in anderen Ländern, hat sich Betteln zu einem einträglichen Geschäftszweig entwickelt, stellt Brunswig-Ibrahim fest. Und das ist nicht nur eine Vermutung. Tatort Casablanca: Viele Kinder werden laut einer soziologischen Studie nicht zur Schule geschickt, sondern von ihren Eltern für ein paar Euro pro Tag an professionelle Bettler „vermietet“. Dass es laut Gesetz eigentlich verboten ist, mit anderen Kindern als den eigenen zu betteln, scheint niemanden zu kümmern, auch nicht die Polizei, die gegen ein Trinkgeld großmütig davon absieht, die Verwandtschaftsverhältnisse zu überprüfen. So nimmt das Bettel-Business seinen Lauf.

Und die Moral von der Geschicht

So, nun wissen wir über die Hintergründe ein wenig Bescheid und können uns die eine oder andere Verhaltensweise, die uns Europäern fremd erscheint, besser erklären. Ich halte es so, dass ich jeden Tag einen Euro oder zwei einem wirklich bedürftigen Menschen zustecke. Das sind meistens Jene, die am wenigsten Krawall um sich selbst machen. Man kann es in ihren gebrochenen, tief traurigen, fast verschämten Augen lesen. Mit Taxifahrern, Händlern usw. wird dagegen knallhart verhandelt, denn sie veranschlagen im ersten Preisgebot meist ohnehin um die 200% des eigentlichen Preises.

Als ehemalige Kolonialmächte und Industriestaaten, die von billigen afrikanischen Ressourcen (Mensch und Natur) profitiert haben und noch immer profitieren, kommt Europa, auch jedem einzelnen Europäer, meiner Meinung nach schon ein gewisses Maß an Verantwortung zu, das es wahrzunehmen gilt.

Trotzdem fällt es mir als Kind des Abendlandes und selbstbestimmter Mensch recht schwer, diese buckelnde Untertänigkeit des durchschnittlichen Marokkaners gegenüber der islamischen Religion zu respektieren … diese mangelnde Selbstverantwortung und die selbstverständliche Erwartung, der Europäer solle gefälligst für jede Dienstleistung doppelt soviel bezahlen und so monetär für den Marokkaner sorgen. Mittendrin fühlt sich das viel, viel mießer an als auf ein paar tausend Kilometer Entfernung. Mit derselben, für unseren Geschmack oft überaus dreisten Erwartungshaltung, machen sich dann viele Menschen auf den Weg nach Europa. Und stellen ernüchtert fest, dass sie keineswegs freudig und mit offenen Armen erwartet werden. Hierzulande gilt es nämlich nicht als von Gott gewollte Pflicht, die Armen bedingungslos zu versorgen, sondern wird vom geschröpften Steuerzahler verständlicherweise oft als Sozialschmarotzertum oder Asylmissbrauch interpretiert. Habe ich Verständnis für die Situation marokkanischer Menschen? Ja. Finde ich die religiös geprägten Gründe, mit denen die vollkommen unterentwickelte Selbstverantwortung insbesondere argumentiert wird gut? Nein. Und dabei ist mir vollkommen klar, dass sich am Status quo so schnell nichts ändern wird.

Zumindest den österreichischen Lesern wird gewiss der Schilcher, ein Roséwein aus der Steiermark, ein Begriff sein. Man sagt, man müsse ihn sich wegen seines hohen Säuregehalts erst „schöntrinken“. Mir geht es mit Marokko im übertragenen Sinn so ähnlich …

 

*Der Link auf das Buch Kultur-Schock Marokko von Muriel Brunswig-Ibrahim führt zu Amazon. Wer sich für das Buch interessiert, erhält es aber selbstverständlich auch im Buchladen um die Ecke.

REGINA M. UNTERGUGGENBERGER

Regina wollte schon als kleines Kind Geschichten schreiben. Später, bereits tief im Berufsalltag einer Kommunikationsentwicklerin verankert, wollte sie unbedingt fotografieren. Heute macht sie beides. Sie erzählt Geschichten in Bild und Wort. Geschichten von besonderen Menschen, Plätzen und Begegnungen. Dabei legt sie stets Wert auf die innere Verbindung zu den Menschen, Landschaften und Dingen, die sie portraitiert.

4 Kommentare

  1. Hallo Regina!
    Danke, dass du mich mit deinem Text mit auf deine Reise genommen hast und die deine Fotos unterstreichen deine Erzählung auf eine ästhetisch beeindruckende Weise!

  2. Danke für das Kompliment, Nicki. Es war zwar auch das Fotografieren meist mit Geldforderungen und irren Diskussionen verbunden, aber ein paar gute Bilder hab ich dann doch mit nachhause genommen.

  3. Liebe Regina, Deinem Bericht kann ich uneingeschränkt zustimmen. Ich war mit meinem Mann im Oktober 2015 für ein paar Tage in Marrakesch … , und dann auf einer geführten Rundreise (die übrigens sehr schön war). Was wir in Marrakesch vorgefunden haben, kann man bestimmt auf alle Gegenden Marokkos übertragen, die von Touristen besucht werden. Eine Freundin war allein mit dem WoMo im letzten Winter 3 Monate in Marokko unterwegs – die hat das Gleiche berichtet; erst gaaaaanz weit abseits wird man in Ruhe gelassen.
    Wir waren unendlich genervt … jeder hält die Hand auf; egal für welche vermeintliche Dienstleistung. Irgendwie versucht man immer, Kleingeld in der Tasche zu haben, um in Ruhe gelassen zu werden. Im besagten Gerberviertel waren wir auch – und mussten schlussendlich auch noch den Schleuser bezahlen, der uns dort hin geführt hat (obwohl wir gar nicht hin wollten).
    Wir sind viel unterwegs – aber so ausgenutzt haben wir uns noch nie gefunden – stand vielleicht auf der Stirn eintätowiert „cash machine“?
    Wir hatten dann schlussendlich zu wenig Bargeld dabei – und konnten nichts abheben, weil keine Karten funktionierten; das war dann auch noch megablöd – da haben wr dann richtig gegeizt. Ging aber auch; die merken schon wenn man kein Geld mehr hat – riechen sie offensichtlich.

    Ganz bestimmt muss man aber alle Reisenden darauf aufmerksam machen, unter gar keinen Umständen den Kindern irgendetwas zu geben. Die sind von Touristen schon auf Bonbons und stylos (Kugelschreiber) geprägt worden; gibt ja jeder gerne – und letztendlich wird diese Erwartungshaltung von klein auf antrainiert. Meiner Freundin wurden Steine angedroht, weil sie nichts mehr geben wollte. Und durch die Bettelei wird dann auch noch das Familiengefüge zerstört, wenn Kinder mehr nach Hause bringen als der Vater.
    … so jetzt bin ich etwas abgeschweift – und Erinnerungen an eine letztendlich doch traumhaft schöne Marokkoreise sind wach geworden.
    Viele liebe Grüße aus Oberbayern.

  4. Liebe Maresa, vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar. Er enthält sehr viele meiner eigenen Gedanken. Ich habe in Marokko Menschen kennengelernt, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und eine Leistung zu einem Preis abieten, der für uns Mitteleuropäer nachvollziehbar ist. Es gibt aber auch viele Menschen in Marokko, die sich mittlerweile daran gewöhnt haben, von Almosen zu leben bzw. vond der leistenden Bevölkerung auf den Grundregeln des Islam durchgefüttert zu werden (den Armen helfen). Ich selbst gebe in Marokko keine Almosen mehr. Stattdesen unterstütze ich einen Familienbetrieb aus Tamegroute, wo alle Familienmitglieder wirklich fleißig und um den Gast bemüht sind, mit der einen oder anderen Dienstleistung, die meiner Qualifikation entspricht (Webseite, Visitenkarte, welche Werbung soll sinnvollerweise geschaltet werden?).

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