Marokko
Das Gesicht in der Portraitfotografie

Same, but different

von | 27. März 2015

Bei manchen Menschen unterscheiden sie sich mehr, bei anderen weniger. Vollkommen gleich sind die beiden Gesichtshälften eines Menschen jedenfalls nie. Als Fotograf lohnt es sich, ganz genau hinzusehen und zu überlegen, welche Seite eines Menschen im Portrait betont werden soll.

Um den Unterschied deutlich zu machen, überredete ich Kristin, Fabian, Melanie und Tom zu einem spontanen Experiment. Dabei fotografierte ich sie zunächst frontal von vorn. Anschließend habe ich die Bilder exakt in der Mitte des Gesichts auseinander geschnitten, die beiden Hälften jeweils gegeneinander gespiegelt und wieder zusammengesetzt. So entstanden pro Person jeweils drei Bilder: Das Original zeigt beide Gesichtshälften, das zweite zweimal die linke (aus Sicht des Models) Gesichtshälfte, das dritte zweimal die rechte Gesichtshälfte. Die Unterschiedlichkeit der Gesichtshälften ist nun offensichtlich.

Die Unterschiede zeigen sich bei den Augen, beim Schwung der Augenlider, den Augenbrauen, den Wangenknochen, Nasenflügeln, Lippen und dem Kinn, die in der jeweils anderen Gesichtshälfte teilweise deutlich anders aussehen können.
Wissenswertes zu unseren beiden Gesichtshälften

Ein Grund für die unterschiedliche Ausprägung der Gesichtshälften liegt in den genetischen Vorgaben eines jeden Menschen. Einen anderen suchte man lange Zeit im sogenannten Hemisphärenmodell, das – vereinfacht gesagt – die Funktionsweise des Gehirns erklärt, mittlerweile aber als überholt gilt.

Das Hemisphärenmodell geht davon aus, dass die beiden Gehirnhälften unterschiedlich spezialisiert sind. Während die linke Gehirnhälfte rationale, sprachliche, analytische, zeitlich lineare und logische Prozesse verarbeite, sei die rechte Gehirnhälfte ganzheitlich, bildhaft, musisch, kreativ, intuitiv, zeitlos, räumlich, emotional und körperorientiert. Laut heutigem Forschungsstand orientieren sich die beiden Hirnhälften zwar am beschriebenen Schema zur Informationsverarbeitung, sie spiegeln aber nur Präferenzen respektive Schwerpunkte, nicht aber exklusive Zuständigkeiten wider.

Die von der Person selbst aus gesehene linke Gesichtshälfte wird schwerpunktmäßig  von der rechten Gehirnhälfte beeinflusst, wo also vor allem Emotionen, Träume und Kreativität verarbeitet werden. Das wirkt sich auf die Gesichtshälfte aus, sie wirkt weicher, verletzlicher, erstaunter und naiver als die rechte. Die linke Gesichtshälfte ist also emotionaler, unmittelbarer und weniger bewusst steuerbar.

Die rechte Gesichtshälfte wird hingegen stark von der linken Gehirnhälfte beeinflusst, wo Sprache, Logik und analytische Fähigkeiten verortet sind. Sie wirkt daher meistens offener, wacher, dynamischer, reservierter, ernster und entschlossener. Sie ist bewusster steuerbar, und wir achten bei unserem Gegenüber in der Regel stärker auf die rechte Gesichtshälfte.

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Wie kann sich der Fotograf nun das Wissen über die Unterschiedlichkeit der beiden Gesichtshälften zunutze machen? Er kann als erstes dieses Wissen ganz bewusst nutzen, um entweder die „öffentliche“ oder die „persönliche“ Seite zu betonen. Welche Seite eines Menschen soll hervorgehoben werden? Eine der beiden Gesichtshälften wirkt beherrschter, distanzierter und kontrollierter, aber auch aufgeschlossener, aktiver und freundlicher. Wird die andere Gesichtshälfte – durch Perspektive oder Lichtsetzung – hervorgehoben, wirkt sie hingegen emotionaler, echter und unmittelbarer, aber auch müder und verschlossener. Passend zur Bildidee hat es der Fotograf also in der Hand, den von ihm portraitierten Menschen auf eine ganz bestimmte Weise wirken zu lassen.

Andererseits kann es auch einfach nur darum gehen, einen Menschen besonders gut aussehen zu lassen. In diesem Fall gilt es, ganz gezielt die „Schokoladenseite“ des Menschen zu identifizieren.

Symmetrie gilt als eines jener Merkmale, warum wir ein Gesicht als besonders attraktiv empfinden. Hier wende ich mich nun von der fachlichen Diskussion ab und stelle persönlich fest, dass ich es viel spannender finde, in „assymmetrischen“, also nach dem geltenden Schönheitsideal „unperfekten“ Gesichtern zu lesen. Mit dieser Einstellung werde ich wohl nie als Fashion-Fotografin nach New York berufen, das ist mir klar … sei’s drum, ich erzähle mit meinen Bildern ohnehin lieber Geschichten …

Special thanks to Kristin, Tom, Fabian und Melanie sowie Manfred, Riccarda und Marcel, die sich spontan für dieses Experiment zur Verfügung gestellt haben.

REGINA M. UNTERGUGGENBERGER

Regina wollte schon als kleines Kind Geschichten schreiben. Später, bereits tief im Berufsalltag einer Kommunikationsentwicklerin verankert, wollte sie unbedingt fotografieren. Heute macht sie beides. Sie erzählt Geschichten in Bild und Wort. Geschichten von besonderen Menschen, Plätzen und Begegnungen. Dabei legt sie stets Wert auf die innere Verbindung zu den Menschen, Landschaften und Dingen, die sie portraitiert.

2 Kommentare

  1. Faszinierend, Regina, wie du das theoretisch Erlernte anhand der Beispiele veranschaulichst, und frappant die Unterschiede. Ganz klar ist jeweils auch mein Favorit die ’naturbelassene‘ Physiognomie!

  2. Danke, Gabi, für dein Kompliment. Und eben weil man anhand solcher Beispiele die Unterschiede deutlich sieht, werde ich in Zukunft noch bewusster darauf achten, wie ich ein Gesicht in Szene setze.

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