Urlaub im 1. Corona-Sommer
Theorie und Praxis des Social Distancing
Besonders originell finde ich jenen Chauffeur, der mich nach 15-minütiger Fahrtunterbrechung in Tripolis/Griechenland beim Wiedereinsteigen in den Bus ermahnt, ich solle doch bitteschön bei den letzten drei Bissen meines Sandwiches nicht die Polsterung des Sitzplatzes bekleckern. Es spricht für ihn, dass ihm die Sauberkeit des Busses am Herzen liegt. Nachdem ich die einzige unter etwa 30 Fahrgästen bin, die während der Fahrt einen Mund- und Nasenschutz trägt, finde ich die Sorge des Chauffeurs aber doch ein wenig übertrieben. Denn mit der allgemeinen Hygiene während der Fahrt sowie den gesetzlich vorgeschriebenen Schutzmaßnahmen nimmt er es weit weniger genau. Er selbst trägt selbstredend keinen Mund- und Nasenschutz, er hat nicht mal pro forma einen umgehängt.
Das Coronavirus wirbelt den Lauf der Welt kräftig durcheinander. Zuhause zu bleiben und den wohlverdienten Urlaub auf Balkonien zu verbringen, ist für viele Menschen die beliebteste Option. Ebenfalls beliebt: Urlaub im eigenen Land oder im privaten PKW zu Destinationen in Italien oder Kroatien zu reisen.
Ich selbst hätte vermutlich eine der ersten beiden Optionen gewählt, stünde da nicht seit dem letzten Jahreswechsel die Einladung einer Freundin im Raum. Anlässlich ihrer Hochzeit lädt sie für Anfang Juli zu einem Treffen unter Freunden nahe ihrem Heimatort am Peloponnes. Ein freudiger Anlass, den ich gerne dazu nutzen möchte, sie nach langer Zeit wiederzusehen. Nach dem Lock-down warte ich ab, storniere den Flug von Wien nach Athen erstmal nicht. Nachdem es innerhalb der EU ab Mitte Juni wieder möglich ist zu reisen, beschließe ich, die Reise nach Griechenland anzutreten.
Gespannt, wie sich eine Reise während der der Corona-Zeit anfühlen würde, begebe ich mich auf den Bahnhof, wo Personal und Fahrgäste fast durchwegs einen Mund- und Nasenschutz tragen. Auch im Zug Richtung Flughafen Wien Schwechat gewinne ich den Eindruck, dass die meisten Passagiere die gebetsmühlenartig wiederholte Aufforderung zum Social distancing zumindest weitgehend ernst nehmen. Check-in, Gepäckaufgabe und Sicherheitskontrolle sind rasch erledigt, wobei sich hier schon deutlicher abzeichnet, dass viele Menschen sich schwertun einzuschätzen, wieviel ein Meter Abstand ist. Das scheint nicht nur beim Einparken ein häufig verkanntes Problem zu sein.
Während ich auf das Boarding warte, entdecke ich einen Artikel auf orf.at, der mich darüber aufklärt, dass ich meine Anreise in Griechenland eigentlich 48 Stunden vor der Anreise hätte anmelden sollen. Beiläufig wird in dem Artikel erwähnt, dass es an den griechischen Flughäfen bereits zu chaotischen Szenen gekommen sei, da die griechische Regierung dieses Gesetz erst vier Tage zuvor beschlossen hat und viele Gäste davon noch nichts wissen. Flugs erledige ich die Anmeldung über Smartphone – zumindest am Tag der Anreise – noch vor dem Boarding, und erhalte einen QR-Code zugeschickt, den ich in Athen vorweisen muss. Update 17. Juli: Gestern wurden auf Kreta zwei Touristen aus Deutschland mit einer Geldbuße von jeweils 500 Euro belegt, weil sie bei ihrer Ankunft den QR-Code nicht vorweisen konnten.
Eben noch mit den bürokratischen Hürden des Reisens während der Coronavirus-Pandemie beschäftigt, fällt mir auf, wie halbherzig viele Urlauber den Mund- und Nasenschutz beiseiteschieben. Mit dem Social distancing ist es beim Boarding ca. eine halbe Stunde vor dem Abflug endgültig vorbei. Das Flughafenpersonal wirkt nervös als sich gleich nach Aufruf des Flugs eine dichte Traube am Schalter bildet. Abstand hin oder her, die Passagiere wollen alle möglichst schnell und möglichst gleichzeitig durch die Kontrolle. Ich selbst warte, bis sich das Gedränge zumindest etwas lockert.
An Bord ist es kaum besser. Es wird gedrängelt und geschubst, dass es nur so eine Freude ist. Immerhin bleiben die mittleren Sitze der Dreier-Reihen frei, sofern es sich nicht um drei Familienmitglieder handelt, die zusammen auf Urlaub fliegen. Ich ziehe meinen Mund- und Nasenschutz höher und rücke noch dichter ans Fenster. Steward und Stewardess bemühen sich, das Gedränge aufzulösen und die Abstandsregel durchzusetzen – leider ist das professionelle Agieren nur von mäßigem Erfolg gekrönt.
Das Personal bittet die Passagiere, erst mal sitzen zu bleiben. Dennoch springen nach knapp zwei Stunden Flugzeit viele von ihnen auf wie von der Tarantel gestochen, noch ehe der Kapitän das Flugzeug zum Stehen gebracht hat. Mir bleibt nichts übrig als mit stoischer Gelassenheit zu beobachten, wie sich Fluggäste fast prügeln um zuerst an das Gepäckfach zu gelangen und von Bord zu gehen.
Dann wird ruchbar, dass Gäste den oben erwähnten QR-Code vorweisen müssen. Das in einem Crescendo rasch anschwellende Stimmengewirr klingt von überrascht über hysterisch bis hin zu zornig, während das Bordpersonal pflichtschuldig mit Formularen in der Hand wedelt. Die griechische Regierung hat das aus der Kurzfristigkeit der Maßnahme resultierende Chaos auf den Flughäfen erstaunlicherweise nicht vorausgesehen und also eine Ausnahmeregelung in Kraft gesetzt. Sie ermöglicht es Reisegästen, das entsprechende Formular direkt auf dem Flughafen auszufüllen. Während am Schalter für die Anmeldung schon fast wieder eine Prügelei in Gange ist und in einem separaten Bereich stichprobenartig auf Corona getestet wird, gelange ich mit dem QR-Code ohne Probleme und ohne Gedränge aus dem Flughafengebäude. Mein Vermieter holt mich dort ab – trotz über 30°C tragen wir im Auto beide den Mund- und Nasenschutz.
Steigende Infektionen in den letzten Tagen, ein Reproduktionswert höher als Eins, chaotische Zustände am Flughafen in Athen – und es war wohl nicht der einzige Flughafen, an dem sich derlei Szenen abspielten – lassen mich an meiner Reise zweifeln. Mit einer wenig schreckhaften Grundhaltung und dem Motto „Tscheltscher Blut ist kein Himbeersaft“ bin ich von zuhause aufgebrochen. Am Flughafen fühle ich mich zum ersten Mal unwohl. Und dieses Gefühl sollte sich auch in den Bussen, mit denen ich von Athen weiter auf den Peloponnes reise, nicht legen. Sehr leichtfertig und, wie ich finde, rücksichtslos, tragen die meisten Menschen in den Bussen überhaupt keinen Mund- und Nasenschutz. Andere halten sich beim Niesen die Hand vors Gesicht und fassen danach mit dem Patschehändchen wieder ungeniert an Lehne und Armstütze.
Die Stadtbevölkerung in Athen verhält sich diszipliniert. Ich beobachte in den U-Bahnen niemanden, der dort ohne Mund- und Nasenschutz zu Gange wäre, höchstens den einen oder anderen Sandler. In besonders frequentierten U-Bahnstationen ist ein Polizist abgestellt, der Menschen ohne Schutzmaske zurückhält. In den Aufenthaltsbereichen der U-Bahn-Stationen ist jeder zweite Sessel mit einem Schild markiert, der auf die Abstandsregel hinweist, ebenso innerhalb der U-Bahnabteile. Mit Lautsprecherdurchsagen wird das Einhalten der Maßnahmen immer wieder in Erinnerung gerufen. Das Abstandhalten bleibt aber frommes Wunschdenken. Zu gewissen Tageszeiten und auf gewissen Streckenabschnitten sind die Fahrgäste wie Sardinen in die U-Bahn gepfercht. Als Touristin habe ich die Zeit auch mal einen U-Bahn Zug fahren zu lassen, wenn er überfüllt ist, und dafür den nächsten zu nehmen. Am Ende meiner Reise fahre ich mit der U-Bahn vom Stadtzentrum zum Flughafen und gerate mitten in den Berufsverkehr. Das Flugzeug wartet nicht, ich schlucke die Kröte und steige in den überfüllten Waggon ein – wohl fühle ich mich dabei nicht. Als Alternative wäre wohl nur ein Taxi geblieben.
Das Chaos beim Boarding und im Flugzeug ließe sich meiner Meinung nach auflösen, indem man Passagiere nach Sitzreihen abfertigt. Habe ich beispielsweise vor vielen Jahren am Flughafen Lima so erlebt und hat wunderbar geklappt. Außerdem sollte es machbar sein, mehrere Transferbusse zur Verfügung zu stellen, welche die Passagiere vom Gate zum Flugzeug transportieren und umgekehrt. In Linienbussen wäre es in Wahrheit würdig und recht, wenn der Chauffeur nicht nur einen reinlichen Umgang mit der Polsterung, sondern auch das Tragen des Mund- und Nasenschutzes anmahnt. Wie wir dieser Tage hören, kommt es in solchen Situationen aber leider auch zu inakzeptablen Zwischenfällen. Ich denke da etwa an den französischen Buschauffeur, der Fahrgästen ohne Ticket und Mund-Nasen-Schutz den Einstieg verwehrt und daraufhin derart verprügelt wird, dass er an den Folgen stirbt.
Mein persönliches Fazit: Die Heirat meiner Freundin war es mir definitiv Wert, nach Griechenland zu reisen.
Mein allgemeines Fazit: An den Stränden, in den Beherbergungsbetrieben und öffentlichen Einrichtungen wie beispielsweise dem Akropolis-Museum habe ich professionelle Gastgeberinnen und Gastgeber angetroffen, die sich erstens selbst an die Schutzmaßnahmen halten und zweitens Vorkehrungen treffen, damit es auch den Gästen möglich ist, sich daran zu halten. Große Probleme gibt es aber im Bereich der An- und Abreise sowie in öffentlichen Verkehrsmitteln.
Obwohl ich eine große Freundin europäischer und österreichischer Grundrechte sowie von offenen Grenzen bin, muss ich sagen, ich verüble es keiner Regierung, wenn sie die eine oder andere bereits gelockerte Maßnahme wieder zurücknimmt, sollte die Kurve der Infektionszahl und Reproduktionszahl weiter steil ansteigen. Zurzeit deutet alles darauf hin, dass es wohl so kommen wird. Denn eine erkleckliche Anzahl an Menschen hält sich schlicht nicht an die Schutzmaßnahmen. Diese Menschen sind zur Selbstverantwortung entweder nicht in der Lage oder nicht gewillt. Nehmen diese Menschen die Gefahr des Virus nicht ernst? Ignorieren sie die Gefahr nach den Einschränkungen der letzten Monate? Ich weiß es nicht.
Mag sein, dass Bewohner von Regionen, in denen es bisher nur wenige Infizierte oder Tote gab, die Notwendigkeit Mund und Nase zu bedecken und Abstand zu halten als nicht so dringend erachten. Dazu zähle ich mich zumindest in gewisser Hinsicht bisher übrigens selbst, denn in meiner Wohngemeinde auf dem Land gibt es bisher keine (nachgewiesenen) Erkrankungen. Das verleitet zu einem sorglosen und legeren Umgang mit der Situation. Selbst Gast in einem anderen Land, wird mir aber bewusst, wie sehr es zu meinem subjektiven Wohlbefinden beiträgt, wenn sich Menschen an die Schutzmaßnahmen halten. In Regionen, die von dem bisschen Tourismus, das diesen Sommer stattfindet, ihr wirtschaftliches Überleben sichern müssen, ist das Wohlbefinden der Gäste wichtig. Und dazu zählt eben auch das Benehmen der Menschen in einer Region, die nicht unmittelbar in der Tourismusbranche beschäftigt sind.
Meeresrauschen, Sonnenuntergänge wie im Bilderbuch, die sinnstiftenden Momente mit meiner Freundin und Corona – eine besondere und zugleich sonderbare Reise geht zu Ende.
REGINA M. UNTERGUGGENBERGER
Regina wollte schon als kleines Kind Geschichten schreiben. Später, bereits tief im Berufsalltag einer Kommunikationsentwicklerin verankert, wollte sie unbedingt fotografieren. Heute macht sie beides. Sie erzählt Geschichten in Bild und Wort. Geschichten von besonderen Menschen, Plätzen und Begegnungen. Dabei legt sie stets Wert auf die innere Verbindung zu den Menschen, Landschaften und Dingen, die sie portraitiert.
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