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Ein unerwartetes Wiedersehen

Über Fabien und die Schmiede von Sibiu

von | 23. Juni 2017

Kaum innerhalb des Dracula-Schlosses in Bran/Rumänien, will ich im Grunde schon wieder raus. Ihr erinnert euch vielleicht an meine ganz persönliche Gruselgeschichte, als es mir schier einen kalten Schauer über den Rücken trieb. Schubsende, schnatternde Touristenmassen, die im vermeintlichen Heim des Fürsten mit den blutunterlaufenen Augen ihr Unwesen treiben und mich an Sardinen in der Dose erinnern. Es scheint, als sei der letzte Tag angebrochen. Für ein Selfie mit den niedlichen Türmchen des Schlosses im Hintergrund steht man mindestens zehn Minuten an, und man muss schnell handeln, denn die nächsten Aspiranten lauern in Angriffsposition, halten den Auslöser bereits auf Anschlag gedrückt. Fotografischer Einheitsbrei.

Mitten im Gewühl beschließe ich: Nix wie raus! Während ich mich orientiere und versuche, die schnellstmögliche „Fluchtroute“ ausfindig zu machen, klopft mir jemand auf die Schulter. „Was ist denn jetzt wieder?“, denke ich mir und fahre entnervt herum. Oha! Das ist ja eine echte Überraschung! Ich erkenne den Schulterklopfer, und das meine ich im denkbar positivsten Sinn, sofort. Es ist einer der Schmiede, den ich in der Woche zuvor in Sibiu/Hermannstadt, rund 200 Kilometer von Bran entfernt, gesehen hatte. Schwarze Haare, Schnurrbart, dunkle Augen, kleines geflochtenes Zöpfchen, Oberarme wie Baumstämme und eine Baskenmütze auf dem Kopf. Mit seinen Kollegen, allesamt Wandergesellen, betreibt er in Sibiu auf dem Platz vor der Evangelischen Kirche die Sommermonate über eine Art offene Werkstätte, um den Menschen das alte Schmiedehandwerk näher zu bringen.

Eine Woche zuvor in Sibiu/Hermannstadt

Ich hatte die offene Werkstätte ein paarmal umkreist, mich aber immer etwas entfernt gehalten. Fabien und seine Kollegen werkten dienstbeflissen vor sich hin, und fertigten – sehr oft auch unter Mithilfe von interessierten Touristen – kleine Kunstwerke an. Stets umringt von Schaulustigen, die sie mit ihren Kameras aus nächster Nähe „abschossen“. Genau das kam mir richtig widerwärtig vor. Sowas tut man einfach nicht. Deshalb machte ich lediglich aus der Entfernung ein paar Bilder und setzte mich mit Kamera und aufgesetztem 70-200 mm Objektiv auf eine Parkbank um das Treiben und die einzelnen Handgriffe der Schmiede über zwei Stunden lang zu beobachten. In dieser Zeit machte ich maximal 20 Bilder. Ich überlegte, sie direkt anzusprechen, ob ich eine ganze Bildstrecke fotografieren, vielleicht sogar mit in die Wandergesellen Herberge Hermannstadt/Sibiu und sie interviewen darf. Es half nichts, es schien mir unpassend, ich verwarf den Gedanken wieder, da sie vollkommen auf die Touristen und ihr Handwerk konzentriert waren. Schade, aber bevor ich jemanden „abschieße“, verzichtete ich lieber auf das eine oder andere Bild. Das gebietet der Respekt.

Ein unerwartetes Wiedersehen

„Sorry to disturb you. You are the photographer from Sibiu, aren’t you“, fragt mich der Schmied. Recht verdattert nicke ich. Ich sei ihm in Erinnerung geblieben, weil ich so lange da gesessen hatte aber nicht näher gekommen sei. Damit hatte ich nun nicht gerechnet. Schließlich flanieren an der Werkstätte in Sibiu täglich hunderte Touristen vorbei, und das war ja auch schon letzte Woche gewesen. Der Schmied stellt sich als Fabien vor und fragt, ob ich ihm nicht ein paar Bilder zukommen lassen könnte. Das würde ich natürlich. Ich erfange mich schnell von der Überraschung und frage nun meinerseits, ob er nicht Zeit hätte, anschließend mit mir auf ein Bier zu gehen. Da würde ich dann vielleicht jene Informationen bekommen, für die in Sibiu die Situation nicht passend gewesen war.

Ich warte am Ausgang als Fabien und sein Kollege offenbar tiefenentspannt aus dem Schloss kommen. Er ist ganz begeistert von den Exponaten, die, wie er sagt, Handwerkskunst von höchster Güte sind.

Fabien stammt aus Südfrankreich und lebt seit einigen Jahren in Cluj im Norden Rumäniens, wie er beim verabredeten Bier erzählt. Noch ist mir nicht ganz klar, was ihn veranlasst hat, von Frankreich in ein Land zu ziehen, wo der Lebensstandard doch deutlich geringer ist als bei uns.

Fabien hatte mal ein Maschinenbaustudium begonnen, aber die alte Schmiedekunst zog in bald unwiderstehlich in den Bann. Er schmiss das Studium hin, erlernte das Handwerk und machte sich als Wandergeselle auf den Weg. „In Rumänien wird Handwerkskunst noch geschätzt“, erklärt Fabien mit einem zufriedenen Lächeln und ringelt sein Zöpfchen um den Zeigefinger. In den großen Industrienationen Europas gebe es diesbezüglich einen rasanten Werteverfall. Fabien lebt selbstbestimmt, einfach und ohne Luxus. Er lebt von dem, was er mit seinen eigenen Händen schafft. Und dabei wirkt er glücklich. Ob er in sein Heimatland Frankreich zurückkehren will, weiß er noch nicht so genau.

Herberge für Wandergesellen

Sibiu/Hermannstadt ist für Fabien ein besonderer Platz. Denn die Schauwerkstätte ist nur ein kleiner Puzzleteil eines größeren Projekts. Als Sibiu/Hermannstadt 2007 Europäische Kulturhauptstadt wird, beschließen einige Gesellen und die Deutsche Gesellschaft e. V., eine Ausstellung über die Hermannstädter Zünfte mit einer großen Schauwerkstätte zu organisieren. Denn Handwerkskunst hat hier seit jeher eine große Tradition. Damit soll die Zukunft der „Casa Calfelor“, eine Herberge für Wandergesellen, abgesichert werden. Sie gründen den Verein „Casa Calfelor Sibiu“ und schließen mit der evangelischen Kirchengemeinde einen Vertrag über die Nutzung ab. Die Herberge ist heute weit mehr als eine Anlaufstelle für durchreisende Gesellen. Denn der Verein stellt den Kontakt zwischen reisenden und einheimischen Handwerkern her und organisiert mit seinen Partnern und Förderern Projekte, an denen Wandergesellen aus ganz Europa teilnehmen. In Sibiu/Hermannstadt sind die reisenden Gesellen nicht nur Botschafter ihres Handwerks, sondern auch Botschafter ihrer Regionen und Traditionen und Partner ortsansässiger Handwerker. Mit der Schauwerkstätte werden Spenden generiert, die dem Erhalt der Wandergesellenherberge zugute kommen.

Auf der Walz

Die Traditon der Wanderschaft im Handwerk geht bis in das 12. Jahrhundert zurück. „Walz“, „Stör“ oder „Tippelei“ bedeutete damals, dass junge Handwerker nach abgeschlossener Lehre mindestens drei Jahre lang auf Wanderschaft gehen mussten, um später den väterlichen Betrieb übernehmen zu können.

In Deutschland gibt es heute vier große „Schächte“, also Vereinigungen von Handwerkern, die auf Wanderschaft sind. Und jeder Schacht hat seine eigenen Regeln. Nur wer einen Gesellenbrief hat, unter 30 Jahre alt, ledig und kinderlos ist, darf auf die Walz gehen. Außerdem muss das Führungszeugnis sauber sein. Wer dann auf die Walz geht, hat nicht nur das Gesetz zu achten, sondern auch den Ehrenkodex seiner Gesellschaft.

Egal wohin der Wandergeselle auch „tippelt“ – er steht direkt in Kontakt mit der Bevölkerung vor Ort und lernt deren Lebensweise hautnah kennen. Wenn das Lebensmodell „Walz“ auch in der Öffentlichkeit wenig bekannt ist und heute selten gelebt wird, so hat sie doch den Charakter einer praxisnahen Lebensschule.

Ungeplante Reiseerlebnisse sind die schönsten

Die Unbill in Draculas Gruselschloss ist längst vergessen als Fabien, sein Kollege und ich den lieben langen Nachmittag in der drückenden Hitze Transsilvaniens über Gott und die Welt reden. Die Wolken hängen schwer in der Luft, links und rechts des Draculaschlosses fahren die ersten Blitze nieder. Ich bezahle die Rechnung, die Zeichen stehen auf Abschied. Das fällt schwer nach dieser schönen und unverhofften Begegnung. Wann denn der nächste Bus fährt, fragt mich Fabien. In zehn Minuten. Und dann wieder in etwa eineinhalb Stunden, so genau kann man das in Rumänien ja nie sagen. Ob ich nicht Lust hätte, mit ihnen zu Abend zu essen. Ja, klar! Wir suchen uns ein Plätzchen in der Nähe des vorbeifließenden Bachs, wo wir vom Regen geschützt sind. Es gibt Paprika, Tomaten, hausgemachten Käse aus der Region, Ajvar und Brot. Ein einfaches Essen, garniert mit ganz viel Herz.

Begegnungen auf Reisen haben ganz unterschiedliche Qualitäten. Von oberflächlich, supercool aber zeitlich begrenzt bis hin zu tiefgehend und ergreifend. Wenngleich jeder in seinen gewohnten Alltag zurückkehrt, denkt man doch oft aneinander und spürt die Verbundenheit jener unbeschwerten Tage. So geht es mir mit Fabien und den Schmieden von Sibu.

REGINA M. UNTERGUGGENBERGER

Regina wollte schon als kleines Kind Geschichten schreiben. Später, bereits tief im Berufsalltag einer Kommunikationsentwicklerin verankert, wollte sie unbedingt fotografieren. Heute macht sie beides. Sie erzählt Geschichten in Bild und Wort. Geschichten von besonderen Menschen, Plätzen und Begegnungen. Dabei legt sie stets Wert auf die innere Verbindung zu den Menschen, Landschaften und Dingen, die sie portraitiert.

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