Marokko
Zwischen öffentlichem Interesse und Privatsphäre

Medienethik in der Kriegs- und Krisenfotografie

von | 30. Januar 2016

Prolog

Ob es nun die Toten im syrischen Bürgerkrieg sind, oder Aylan, der kurdische Junge, der auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken und an die türkische Küste gespült worden war, die Arbeit von Fotojournalisten in Krisengebieten ist aktueller denn je. Eine Reaktion in Presse, sozialen Medien und Politik lässt sich am unmittelbarsten durch die Wirkung von Bildern erzielen. Der Journalist Takis Würger formuliert treffend: „Ein Tod, den niemand dokumentiert, ist ein vergessener Tod. Man kann das auch umdrehen: Wenn du einen Tod dokumentierst, wirst du ihn nicht vergessen können.“

Kriegs- und Krisenfotografie – eine Annäherung

Bilder von Krieg und Krisen können für uns ganz unterschiedliche Bedeutungen haben bzw. einen ganz unterschiedlichen Zweck erfüllen, etwa als Dokument, Beweis, Information, Unterhaltung oder zielgerichtete Propaganda. Wer Kriegsdarstellungen betrachtet, muss sie also verstehen, interpretieren und einordnen. Denn das gleiche Bild oder die gleiche Sequenz, gesehen in einem anderen Kontext, mit anderem Vorwissen oder in eine andere Dramaturgie eingebunden, kann informieren, beunruhigen, verharmlosen oder manipulieren (vgl. http://www.bpb.de/gesellschaft/medien/krieg-in-den-medien/).

Die Kriegsfotografie hat nicht das vorrangige Ziel, der Verstorbenen zu Lebzeiten zu gedenken. Im Gegenteil. Sie zielt darauf ab, die Umstände des Ablebens sichtbar zu machen.

Die Frage nach der moralischen Dimension stellt sich in der Kriegsfotografie also noch viel stärker als im Fotojournalismus generell. Denn drastische Bildinhalte wie etwa die Darstellungen von Tod, Zerstörung und Leid lassen oft eine hitzige Debatte über die Grenze zwischen Information und kommerzieller Bedienung von Sensationslust aufkommen (vgl. TRÖSCHEL 2012: S. 16).

Die Würde der Verstorbenen liegt manchmal ausschließlich in den Händen der Reporter, denn sie können ja keine Rechte mehr geltend machen. Gleichzeitig hinterlassen sie den Überlebenden die Pflicht, ihr Andenken zu achten und zu schützen. Die Leiche ist ein „Abbild der Person, die den Körper einmal behaust hat“ (ebd.).

Die Herausforderung für die Medien besteht darin, die Verletzung der Privatspäre Toter und Sterbender mit dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit abzuwägen. Dabei müssen auch Überlegungen einfließen, wie sich die Darbietung eines Toten auf den Betrachter und seine Wahrnehmung des Todes auswirkt bzw. ob der Verstorbene durch die Darstellung zu einem Objekt degradiert wird.

Medienethische Richtlinien

Soweit die Theorie. Dass es nicht ganz einfach ist, diesem Ideal in der journalistischen Praxis immer nachzukommen, liegt auf der Hand. Die Medienwissenschaftlerin Ingrid Stapf ist der Meinung, es könnten nur Richtlinien, nicht aber allgemeingültige Vorgaben gemacht werden. Es müsse in jedem konkreten Fall gesondert beraten und entschieden werden, ob und wie ein Bild veröffentlicht wird (zit. nach TRÖSCHEL 2012: S. 17).

Die Journalistin Nadine Bilke hat das Modell des Konfliktsensitiven Journalismus entwickelt. Es besagt, ein Bild müsse fünf Kriterien erfüllen, um legitim veröffentlicht zu werden: Wahrhaftigkeit, Richtigkeit, Relevanz, Vermittlung und Konfliktsensitivität.

Wahrhaftigkeit ist so zu verstehen, dass die Umstände, die zu den Bildern geführt haben, offen dargelegt werden müssen, damit der Betrachter sie korrekt einordnen kann. Der Faktor Richtigkeit ist als objektive Einschätzung anzusehen. Relevanz meint einerseits die zeitliche Unmittelbarkeit der Darstellung, andererseits das Bemühen, alle Konfliktparteien darzustellen, um Richtiges zu festigen und Einseitigkeiten zu verhindern. Von den Redaktionen wird erwartet, dass sie in der Veröffentlichung von vorhandenen Bildmaterial professionell und überlegt umgehen. Das fünfte Kriterium, Konfliktsensitivität, verlangt die Verknüpfung der schon weiter oben erwähnte multiperspektivische Betrachtung eines Konflikts mit einer empathischen Grundhaltung (zit. nach TRÖSCHEL 2012: S. 17f.).

Die Meinung eines Kriegsfotografen

Hier tut sich gerade was Objektivität und Medienethik anbetrifft, eine gewisse Kluft zwischen theoretischen Modellen und dem Alltag eines Kriegsberichterstatters auf, denn nicht alle fühlen sich einem journalistischen Credo verpflichtet. So ist beispielsweise der französische Fotograf Patrick Chauvel, ein Veteran der Kriegsberichterstattung, der schon im Vietnam-Krieg war, der Meinung:

    „Ethisch sein zu wollen und keine Meinung zu haben, ist Luxus. Ein Luxus – so wie Plastikflaschen sammeln. Du musst dich entscheiden: Du musst mit deinen Fotografien kämpfen. Du musst für deine Meinung kämpfen. Du musst gegen deine Angst kämpfen (KAMBER 2014: S. 80).“

Chauvel führt weiter aus, er glaube nicht an Neutralität, er scheiße auf das journalistische Credo, denn er sei kein Journalist, er sei Fotograf: „Wenn die Waffen gezogen sind, gibt es keinen Respekt, es gilt das Recht des Stärkeren (vgl. KAMBER 2014: S. 86).“

Beispiel 1: Schlepper LKW an der A4 bei Parndorf, 71 tote Flüchtlinge im Laderaum

Wenn wir uns vom Schlachtfeld im Irak zurück nach Europa denken, sind aber medienethische Debatten aktueller denn je. Im Anschluss gehe ich auf zwei konkrete Beispiele ein, wenngleich sie nicht das unmittelbare Kriegsgeschehen, sondern vielmehr dessen humanitäre Folgen widerspiegeln.

Im August 2015 gab es einen öffentlichen Aufschrei, als die Tageszeitung Krone einen Schnappschuss vom Inneren eines Schlepper-Lkw‘s veröffentlichte, auf dem 71 ineinander verkeilte, verwesende Leichen zu sehen sind.

„Die Krone setzte mit der Veröffentlichung eines Bildes der toten, zusammengepferchten Flüchtlinge im Lkw einen unentschuldbaren Tiefpunkt im österreichischen Journalismus“, erklärte etwa der Vorsitzende der Initative Qualität im Journalismus, Johannes Bruckenberger, in einer Stellungnahme. „Während Firmenaufschriften auf dem Lkw unkenntlich gemacht wurden, hält die Krone bei den Toten voll drauf und geht über Leichen. Man druckt solche grauenhaften Fotos nicht, das ist würdeloser und widerwärtiger Boulevardjournalismus“ (http://kurier.at/atmedia/leichenfoto-massive-kritik-an-kronen-zeitung/149.527.313).

Die Tageszeitung Krone rechtfertigte sich, das Bild sei von öffentlichem Interesse, da es „die Dramatik des Todeskampfes von Männern und Frauen im Laderaum ohne Sauerstoff“ darstelle (http://diepresse.com/home/kultur/medien/4808653/Krone-zeigt-Foto-toter-Fluchtlinge-und-erntet-heftige-Kritik?direct=4808356&_vl_backlink=/home/index.do&selChannel=119).

Das Bild war aus Polizeikreisen in die Redaktion der Kronenzeitung gelangt und beschäftigte auch den Österreichischen Presserat. „Ich halte diese Fotos für unentschuldbar. Ich will nicht eine allfällige Entscheidung des Presserats vorwegnehmen, aber Faktum ist, dass Tote auch dann, wenn es sich um Flüchtlinge handelt, Anspruch auf Achtung ihrer Würde haben. Daher ist es inakzeptabel, sie nach ihrem grausamen Tod aus purer Lust an der Sensation im Zeitungsboulevard zur Schau zu stellen“, sagte Andreas Koller, Senatsmitglied im Presserat (ebd.).

flchtlingstragdie-mindestens-tote-flchtlinge-in-lastwagen-auf-a-im-burgenland-entdeckt    Quelle: http://kurier.at/chronik/burgenland/fluechtlingstragoedie-auf-a4-bisher-52-leichen-identifiziert/160.109.961

Es gibt keine einfache Antwort auf die Frage, wie Redaktionen in solchen Fällen mit Bildmaterial umgehen sollen. Das zeigt beispielsweise die Reaktion des deutschen Online-Portals meedia, welches das in der Kronenzeitung abgedruckte Foto zunächst als „pervers“ bezeichnet hatte. „Die Vokabel war impulsiv gewählt und dem Thema nicht angemessen. Es wäre unsere Aufgabe gewesen, die damit zusammenhängende Problematik zu thematisieren und nicht vorschnell Partei zu ergreifen. Als verantwortlicher Redakteur entschuldige ich mich dafür, dass wir in diesem Fall unseren Job schlecht gemacht haben“, sagt Georg Altrogge (http://meedia.de/2015/09/03/ethik-debatte-warum-es-richtig-ist-das-foto-des-toten-fluechtlingsjungen-am-strand-zu-zeigen).

Beispiel 2: Dreijähriger Junge ertrinkt auf der Flucht im Mittelmeer

Wenige Wochen später debattierte man über die Bilder, auf denen ein dreijähriger kurdischer Junge zu sehen war, der im September 2015 auf der Flucht vor dem syrishen Bürgerkrieg im Mittelmeer ertrunken und in der Türkei ans Ufer gespült worden war.  So sehr dieses eine Foto den Betrachter emotionalisiert, so sehr polarisiert es Medienmacher. Darf man dieses oder ähnliche Bilder zeigen, lautet die Frage, und die Antworten fallen unterschiedlich aus.

Aylan war mit seiner Familie auf der Flucht aus Syrien. Das Schlauchboot kenterte, seine Mutter und sein Bruder ertranken ebenfalls, nur der Vater überlebte. In Bodrum wurden die Leichen der ertrunkenen Flüchtlinge angespült.  

3336Quelle: http://www.theguardian.com/artanddesign/2015/sep/04/aylan-kurdi-migrant-mother-shots-that-shook-the-world

Die Tageszeitung Presse hatte nach interner Diskussion in der Redaktion das Foto des toten Buben nicht veröffentlicht. Der Kurier hatte jenes Bild abgedruckt, auf  dem ein türkischer Gendarm zu sehen ist, der den toten Buben davonträgt. Es sind nur die Beine Aylans zu sehen. Die Tageszeitung Österreich bildete Beine, Oberkörper und Arme des toten Kindes ab. Das Wochenmagazin Profil entschied sich, jenes Foto, das die Leiche des Buben am Strand von Bodrum zeigt, am Cover zu publizieren. Aylan ist von hinten zu sehen, das Gesicht des Kindes nicht erkennbar.

23-73585880-23-73576336-1441299725   Quelle: http://www.svz.de/nachrichten/themen/fluechtlinge/mitten-ins-herz-id10622876.html

Hier hatte der Österreichische Presserat geurteilt, die Veröffentlichung der Bilder sei „angemessen“. Obwohl der Persönlichkeitsschutz bei Kindern besonders weit reiche und der Moment des Todes grundsätzlich zur Privatsphäre zähle, sprechen in diesem Fall „gewichtige Gründe für die Zulässigkeit der Veröffentlichung der Bilder“, argumentierte der Presserat.

Das Thema Flüchtlinge sei in den vergangenen Monaten das wichtigste in der Medienberichterstattung gewesen, und die Fotos des ertrunkenen Buben brächten auch „die Dimension des Leids und die Gefahren, die die Flüchtlinge während ihrer Schiffreise im Mittelmeer erwarten, auf den Punkt“, urteilte das Gremium. Zudem „stehen die weltweit verbreiteten Bilder stellvertretend für die zahlreichen ertrunkenen Flüchtlinge und könnten zeithistorische Bedeutung erlangen“, heißt es in der Stellungnahme des Presserats. Die Veröffentlichung habe weiters zur Sensibilisierung der Allgemeinheit beigetragen. Der Vater von Aylan habe sich ebenfalls mehrfach für eine Verbreitung der Fotos ausgesprochen. Keines der Bilder sei „sensationell oder voyeuristisch“ aufbereitet worden, so der Presserat (zit. nach http://diepresse.com/home/kultur/medien/4872485/Presserat_Foto-des-toten-Aylan-angemessen-Krone-verurteilt?from=suche.intern.portal).

REGINA M. UNTERGUGGENBERGER

Regina wollte schon als kleines Kind Geschichten schreiben. Später, bereits tief im Berufsalltag einer Kommunikationsentwicklerin verankert, wollte sie unbedingt fotografieren. Heute macht sie beides. Sie erzählt Geschichten in Bild und Wort. Geschichten von besonderen Menschen, Plätzen und Begegnungen. Dabei legt sie stets Wert auf die innere Verbindung zu den Menschen, Landschaften und Dingen, die sie portraitiert.

2 Kommentare

  1. Danke für den komprimierten Einblick in ein kompliziertes Thema. Ich zweifle daran, ob ich die Begriffe Wahrhaftigkeit und Richtigkeit in der gleichen Weise verwende, wie sie in der Medientheorie gebraucht werden. Es erscheint mir aber plausibel, wenn ein Praktiker den Anspruch auf Neutralität und Objektivität als nicht umsetzbare Utopie demaskiert. Vor allem der Anspruch, gleichzeitig neutral und empathisch sein zu wollen, geht wohl an jeder Realität vorbei, im Besonderen an jener des Kriegsgeschehens. Wobei ich dafür eintrete, bei der Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit die Art der Präsentation zu berücksichtigen. Für mich kratzt profil hier auch an einer Grenze, wenn es das verblichene Kind am Strand auf die Titelseite druckt. Der Vorwurf der Ausbeutung ist da nicht leicht vom Tisch zu wischen. Journalismus lebt heute weitgehend von der Sensation. Die Frage ist dann meist: Wie viel Ethik können wir uns leisten. Die Entscheidung sollte nicht mit dem Kopf alleine getroffen werden.

  2. Journalismus lebt schon seit langer Zeit, wenn nicht sogar von Beginn an, von der (negativen) Sensation. Scheint in der Natur des Menschen zu liegen, dass er sich an negativen Dingen mehr ergötzt als an guten.

    Ich beobachte, dass durch die Digitalisierung von Medien die Geschwindigkeit der Veröffentlichung heute eine größere Rolle spielt als vor 15 oder 20 Jahren. Das geht zwar nicht in allen aber doch in sehr vielen Fällen zu Lasten einer sorgfältigen Recherche und einer sorgfältigen Abwägung von Argumenten, ob ein entsprechendes Bild veröffentlicht wird, und wenn ja, wie. Sogar auf regionaler Ebene (hier in Osttirol, hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen) matchen sich die Medien, wer irgendeine Neuigkeit zuerst hinaus posaunt. Zuerst den Wahrheitsgehalt eines Gerüchts recherchieren? Scheiß drauf! Im Zweifelsfall schreiben wir halt drei Tage später, dass es doch anders war.

    Nun geht es hier aber nicht um irgenwelche Provinzpossen, sondern um extremes menschliches Leid. Ist mir Recht, wenn Presserat und sogar der Vater befinden, eine Veröffentlichung sei angemessen. Ich befürchte nur, dass eine erkleckliche Zahl an Medien der Veröffentlichung nicht medienethische Überlegungen zugrunde legen, sondern eine möglichst große Reichweite und möglichst hohen Umsatz.
    Wieder einmal zeigt sich ganz wunderbar, wie weit Theorie und Praxis auseinander liegen …

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